Porträt
Biographie
Veröffentlichungen
Aktuelles
Vorträge
Berlin: Haus der Kulturen
Berlin: Schloss Bellevue
Mülheim: Theater
Lehrtätigkeit
Schreibseminare
Denkbar-Festschrift
Kontakt
Impressum
     
 



Verehrter Herr Bundespräsident,
liebe Frau Wulff,
sehr geehrte Frau Berio,
verehrte Gäste.



Es gibt Augenblicke und Tage, da erscheinen uns gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Differenzen ein für alle Mal festgeschrieben und unüberbrückbar. Wir betonen dann vor allem die dramatischen Unterschiede zwischen unserer Kultur, unseren Werten und Idealen, und fremden Kulturen, wenn sie etwa auf dem Boden der Religion demütigende Strafmaßnahmen zu legitimieren versuchen. Sobald wir aber das Destruktionspotential auch in unserer Geschichte der Zivilisation erkennen und wir uns unserer selbstreflexiven, selbstkritischen Fähigkeiten besinnen, wächst wieder der Wunsch nach dem Dialog, den wir oft genug schon selbst in ausweglos erschienenen Situationen und Konflikten praktiziert haben. Wie können wir verstehen, was uns und was die Anderen zu einem bestimmten Denken und Handeln getrieben hat? Die Tatsache, dass wir uns unterscheiden und uns wechselseitig als merkwürdig, ja als absonderlich vorkommen, ist das im Grunde - so meine Überlegung - nicht das viel Elementarere, wenn Sie so wollen: das Natürlichere als das Gemeinsame?

Ich möchte also von der Erfahrung der Differenz in unserem persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Leben ausgehen und versuchen, ihr etwas von ihrem Makel zu nehmen. Ist die Differenz - und damit auch das Fremde - uns vielleicht viel näher und (allem Anschein zum Trotz) vertrauter, als wir gemeinhin glauben?

Wir können nicht anders, als das uns Vertraute erst einmal als das Eigene zu sehen. Was dem nicht entspricht, das ist das Fremde, das Ferne, das Unvertraute, sehr schnell auch das Unheimliche. Der Fremde ist der Inbegriff all dessen, was uns Angst macht. Auf ihn können wir das umlenken, was wir als Schattenseiten in uns selbst nicht wahrnehmen möchten, vor allem die der menschlichen Natur eigene Unberechenbarkeit. An ihn heften wir alles in uns latent vorhandene Misstrauen, das wir auch gegen uns selbst hegen. Wir brauchen den Fremden, um uns selbst als normal, richtig und verlässlich zu empfinden.

An diesem Punkt löst sich der Künstler mit aller Entschiedenheit von der Allgemeinheit. Er erfährt sich als kreativ nicht im Abwehren, sondern in der Vergegenwärtigung des als fremd Erscheinenden. Jeder Museumsbesuch zeigt uns: Kunst entfaltet einen Großteil ihrer formenbildenden Kraft gerade in der Durchdringung dessen, was uns als eigen und was uns als fremd erscheint.

Luciano Berio, dessen Stück "Naturale" wir gleich hören werden, war solch ein leidenschaftlicher Erforscher des Fremden. Und als Zuhörer seiner Musik werden wir selbst zu Ethnologen, gehen auf Entdeckungsreise in europäischer und außereuropäischer Musik.

Solange es noch keine Tondokumente gab, war es schwierig, außereuropäische Musik kennenzulernen. Reisende konnten die Musik nicht wie Plastiken, Masken und Fetische mitbringen. Unabhängig von der Art der zumeist entwürdigenden, das Sakrale tief verletzenden In-Besitznahme war damit aber das Tor zu einer neuen Welt weit geöffnet.

Auf der Ebene der bildenden Kunst ereignete sich in den Jahren nach 1905 die überhaupt aufregendste Durchdringung europäischer und außereuropäischer Formen und Visionen. Die europäische Kunst, ob bei Picasso, Klee, Brancusi oder Georges Braque, hätte sich im 20. Jahrhundert nicht aus sich heraus erneuern können. Sie hat sich mit dem fremden Nektar und der visionären Vorstellungskraft, wie sie in der primitiven Skulptur zum Ausdruck kommt, vollgesogen. Sie hat die in der sogenannten Negerplastik verkörperte Kraft gespürt und in den eigenen Produktionsprozess übertragen. Dabei ist sie aneignend und kreativ zugleich verfahren.

Mit der Entdeckung vor allem afrikanischer und ozeanischer Masken und Plastiken durch Picasso und die Fauvisten und durch die Ausbildung des plastischen Sehens bei den Kubisten wurde die Stammeskunst oder art n gre zum wahlverwandten Vor-Bild in der Moderne.

Während der Künstler in dieser Selbst- und Fremdbegegnung offen mit Brüchen und Zerreißproben umgeht - gerade hier in seinem Element ist -, leben wir außerhalb der künstlerischen Praxis zumeist in der Vorstellung, wir sollten in allem Homogenität anstreben.

In Wahrheit aber sind das Uneinheitliche, die Verschiedenartigkeit und Heterogenität auch unser Element, in dem wir uns immer schon vorfinden und durchaus auch wohlfühlen. Und dies auf allen Ebenen:

kleinste Gruppen und Gemeinschaften bis zur Großform der Gesellschaft sind - wir erleben das ständig - geprägt von extrem vielen divergierenden Verhaltensweisen, Haltungen, Positionen, Ritualen, Urteilen und Vorurteilen; viel stärker noch gilt dies für die großen Formen, die wir als Kontinente bezeichnen. Können Sie sich eine gesellschaftlich und kulturell heterogenere Struktur als die des Kontinents Afrika vorstellen? Und doch tun wir so, als gäbe es ein Afrika.

Aber auch auf der Ebene individuellen Lebens liebäugeln wir mit dem bloßen Konstrukt von Einheiten, sprechen von einem Ich und von Identität, wissend, dass jedes Ich unendlich viele Brechungen in sich birgt und Identität nur eine, wenn auch äußerst nützliche, Fiktion ist. Auch in unseren persönlichen Beziehungen - von Freundschaften und Liebesgeschichten bis zur Ehe und Familie - mühen wir uns (oft genug widerwillig) ab an unseren Verschiedenartigkeiten. Dann aber müssen wir feststellen: Gerade im Erkennen und Anerkennen von Differenzen entwickeln wir uns weiter. In der Homogenität - und jeder weiß das - langweilen wir uns schnell; von einer Differenz aber fühlen wir uns belebt, inspiriert, angestachelt zu Aktivität und Kreativität. Ist so gesehen das Erleben der Differenz im Kern nicht künstlerisch?

Mit Luciano Berio und Pierre Boulez stehen beim diesjährigen Musikfest Berlin zwei der großen Meister der Transformation, zwei Liebhaber künstlerischer Verwandlung von Tönen und Texturen im Mittelpunkt. Anders als bei Boulez, bei dem das vorgefundene Material in die neue Gestalt vollständig eingeht, sind bei Berio die verschiedenen Schichten noch als solche erkennbar.

Dies betrifft zum Beispiel die traditionelle Volksmusik. Sie aufzugreifen hieß für Berio, den Traditionen und dem gelebten Leben, den individuellen Nöten, der Trauer, dem Schicksalhaften, der Liebe und der Freude, dem kollektiven Erleben und der Arbeit einen emotionalen Raum zu geben und nach einer untergründigen Einheit mit ganz anderen musikalischen Welten zu suchen. Eine Einheit, die aber in sich gebrochen und experimentell ist, sich auf die Probe, auch auf die Zerreißprobe stellt, sich mit der Differenz konfrontiert.

Beide, Berio und Boulez, sind als Musiker Ethnologen im elementaren Sinne des Erforschens anderer Kulturen und deren Besonderheit. Auch sie machen, ähnlich wie der Ethnologe, die Erfahrung, dass das Fremdartige uns nur aus der eigenen Perspektive fremd und "exotisch" erscheint. Der Fremde ist aber ein alter ego eines jeden Menschen. Zumeist gehen wir von der Vorstellung aus, das Eigene habe per se, ohne eine Gegenfigur, eine Realität, bis wir wieder, oft genug erschrocken, feststellen müssen, wieviel Fremdheit in uns ist, angesichts so mancher Handlungen und bestürzender Traumszenarien.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann es nicht verhehlen - ich möchte Sie dazu verführen, sich stärker noch dem künstlerischen Potential der Durchdringung von Eigenem und Fremdem in Ihrer Erfahrung und Lebenswelt zuzuwenden und aus dieser Mitte heraus diese Musik heute und während des ganzen Musikfestes zu hören.

Als Angehörige geographischer und gesellschaftlicher Formationen mit extrem vielen Ethnien und Religionen, heißen sie nun Afrika, Asien, Nord- und Südamerika oder Europa, sind wir eigentlich bestens historisch und in unserem kollektiven Gedächtnis auf den Umgang mit der Vielgestaltigkeit und Multikulturalität vorbereitet. Wir sind originär Künstler; also Transformer.

Vergessen wir, trotz aller Bedrohung durch das Fremde, nicht, dass die Spannung von eigen und fremd uns kreativ und schöpferisch macht, uns dem Visionären gegenüber öffnet. Dies erfahren wir auch im Alltag: Wir atmen doch, als politisch bewusste Bürger, geradezu auf, wenn die Politik fremd und störend erscheinende Anteile der Gesellschaft (zum Beispiel bestimmte Eigenheiten, Verhaltensweisen, Zeremonien und Kleidungstraditionen) nicht von vornherein auszulöschen versucht, sondern sich dem Prozess gegenseitiger Veränderungen und Wandlungen öffnet.

Nur so ist die Rede vom "Dialog der Kulturen" ernst zu nehmen. Dass dabei Widerstände auf beiden Seiten auftreten, ist nicht zu umgehen. Derart hochgesteckte Ziele wie die Schaffung einer "Demokratischen Weltcharta" oder einer "Weltzivilisation" können ja überhaupt nur ins Auge gefasst werden, wenn man dem Faktum der Differenz eine von Grund auf positive Bedeutung verleiht.

In ihrem Wesen könnten sich alle Menschen - gleich welcher Profession - als Mit-Gestalter einer Welt fühlen, die uns durch ihre bis zum Platzen angespannten Destruktionspotentiale Sorgen bereitet, uns an Abgründe heranführt, uns in Katastrophen verstrickt, die uns oft genug überfordern. Dies ist aber unsere Welt. Und inmitten dieser Welt gestalten wir unablässig, finden uns heute hier - wie an vielen Orten dieser Welt dies heute Gruppen auf ihre Weise tun - zu einer Matinee zusammen, im Rahmen eines Festes, das sich ganz den beglückenden Überschneidungen von künstlerischen Sprachen und Klangformen widmet. Auch wenn die Politik mit einer Vielfalt von Systemen, Sprachen und Ausdrucksformen beschäftigt ist, die zumeist von schwer lösbaren Konflikten überschattet ist, so ist doch auch die Politik in ihrem Kern und ihrem Potential ein kreativer Akt. Sie ist eine in Handeln übersetzte Vielstimmigkeit und Vielgestaltigkeit, eine handlungsbezogene Erforschung von Fremdheit.

Indem wir mit anderen Menschen (vor allem fremder Kulturen) in einen politischen Austausch treten, erfahren wir immer auch etwas über uns, etwas, das uns noch verschlossen war und darauf wartete, entdeckt und ins Leben gerufen zu werden. Und wieder schließt sich der Kreis zur Musik. So sagt Luciano Berio sinngemäß: Die andere Musik - vor allem dann, wenn in ihr viel Geschichte gespeichert ist - bringt uns in Kontakt mit dem Besten, vielleicht noch nicht Verwirklichten, dem Unbewussten und Imaginären in uns. Politik und Musik sollten immer auch Reflexionen sein: über das Zusammenspiel im Ensemble; ein Austarieren der Dynamik zwischen den Innen- und Außenwelten der Teilnehmenden und des Gesamtkorpus, der übergeordneten Struktur.

Es scheint also möglich zu sein, die Politik und die Musik, die wir jetzt hören werden, miteinander in Beziehung zu setzen. Rufen wir uns noch in Erinnerung, dass Musik erst einmal eine sehr praktische, konkrete Aktivität mit sozialen und (in außereuropäischen Kulturen: mit) religiösen Funktionen ist. Der große Unterschied aber ist: Musik hat grundsätzlich - anders als andere Aktivitäten - eine einzigartige, nur ihr eigene Kraft, uns zu ergreifen.

Es ist in der Tat überwältigend, welch einen erfindungsreichen Klangraum Luciano Berio erschaffen hat: poetisch und spielerisch, mimetisch allem nachspürend, vor allem der emotionalen Vertrautheit und Fremdheit einer Musik, die beim Hören oft ein Amalgam zu bilden scheint zwischen dem Sizilianischen, dem Afrikanischen und anderen europäisch-außereuropäisch verwobenen Klangwelten.

Vielleicht lässt sich die Überwältigung, die erfahrene Fremdheit und Nähe dieser Musik so erklären: Der Komponist als Klang-Architekt, der Räumlichkeiten schafft, in denen unsere Seele sich ausbreiten und in vielen Zeiten, Epochen und Stimmungen gleichzeitig sein kann. So breiten sich mit den Tönen alle Emotionen aus, gemäß einer Logik der Komposition und der Empfindungen. Wir fühlen dann, wo wir geschichtlich herkommen und wo wir hinwollen; wir fühlen uns bei dieser Musik wohl im Diversen und sich Überlagernden, im Synkretistischen.

Diese Musik ist ein Geschenk an das Gehör und an die Seele. Das Stück "Naturale" bringt uns in die Nähe unserer Erfahrungen von Kontinuität und von Gebrochenheit. Wir fühlen uns beim Hören so, wie wir uns selbst ständig erfahren: als uns vertraut und uns fremd.

Ich danke Ihnen, verehrter Herr Bundespräsident und liebe Frau Wulff, dass ich heute Ihr Gast sein darf; Ihnen, Herr Sartorius, und Ihnen, Herr Hopp, dass Sie mir vorschlugen, ein paar Schneisen zu schlagen in die Überlagerungen des Eigenen und Fremden, Nahen und Fernen in Rahmen des diesjährigen Musikfestes. Und ich danke Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.


Ich würde mich glücklich schätzen, wenn dieser musikalische Anlass und der "Bellevue" (belles vues im Plural) versprechende Ort auch Gelegenheit gegeben hätten, ausgehend von Luciano Berio, den Menschen als ein von Grund auf ethnologisches Wesen zu skizzieren, ein Wesen, das sich beständig in Bezug zum Fremden im Außen und im "inneren Afrika", wie Sigmund Freud die Seele nannte, entwirft. Niemand möchte sich letztlich, davon bin ich überzeugt, allein durch das ihm Vertraute definieren. Jeder möchte ein kulturelles Wesen sein, das dank seiner schöpferischen, seiner gestaltenden Kraft Teil der Gesellschaft und eines die eigene Gesellschaft transzendierenden Ganzen, das wir "Welt" nennen, ist.