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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will versuchen, die paradoxe Situation, in der ich mich hier befinde, heiter oder, wenn Sie so wollen, "cool" zu nehmen. Die Situation besteht darin, dass ich sehr weit auseinanderliegende Orte - Mythos, Ekstase und das Unbewusste -, Orte, an denen keine Zeit oder eine veränderte Zeitvorstellung herrscht, in genau kalkulierter Zeit aufsuchen und Ihnen hier skizzieren möchte. Da mir wenig Zeit gegeben wird - ich sie auch nicht kaufen kann, so wie kürzlich jemand gesagt hat, mit der Hilfe für Griechenland hätten wir nur Zeit gekauft -, ich also keine Zeit habe, muss ich mich sputen.

"Ich habe keine Zeit": in dieser umgangssprachlichen Formulierung steckt mehr Wahrheit, als man gemeinhin glaubt. In der Tat haben wir die Zeit nicht, sondern nehmen Ereignisse als zeitliche Verläufe sehr engmaschig wahr. Die Begrenztheit unserer Wahrnehmung erlaubt es uns nur äußerst selten, die "Totalität", Komplexität und Heterogenität eines Geschehens zu erfassen und, nicht weniger wichtig, überhaupt zu ertragen. Wir zerlegen die (inzwischen medial ausgeweitete und im Grunde von niemandem mehr emotional erträgliche) Gesamtheit eines Geschehens in Abläufe von Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Jahre und Epochen.

Bei noch weiter zurückliegenden Zeiträumen gerät unser Erfassungsvermögen zunehmend an eine Grenze. Wir sprechen dann von einer vorgeschichtlichen Zeit. Gibt es eine Zeit vor der Geschichte? Und: Gibt es Orte ohne Zeit? Jeder weiß, wie in Träumen Raum- und Zeitordnungen außer Kraft gesetzt werden. Der Traum breitet sich gleichzeitig in alle Richtungen aus, Figuren sind hier und dort, im Gestern und im Heute, auch längst verschwundene Menschen sind oft genug im Traumgeschehen vital.

In bezug auf die Zeit hat der Traum etwas Enthemmendes. Auch in einer anderen Form der Enthemmung, in Zuständen der Ekstase - also des Außer-sich-Seins - wird das Zeitbewusstsein nicht ausgeschaltet, aber verändert. In der rituellen, schamanistischen Ekstase - das sind, wenn Sie so wollen: prätheatralische Formen, Performances - soll in hyperkinetischen Zuständen die Trennung von Himmel und Erde durch die Jenseitsreise aufgehoben werden. Schamanen nehmen den Bezug zur Jenseitsverbindung, der in mythischer Zeit abgerissen ist, wieder auf. Wäre das nicht unser natürlicher Zustand?

Mythen sprechen von einer kosmogonischen Vergangenheit, und in hinduistischen Lehren ist von dem Zeitalter des Sat-Yuga die Rede, das vor Jahrmillionen von Jahren unserem heutigen Kali-Yuga vorausgegangen sei. Unser Zeitalter sei vom Niedergang des Bewusstseins und der Lebenskraft und von einer Orientierung am Grobstofflichen sowie an kleinformatigen Zeitvorstellungen geprägt. Den Blick für großformatige Zyklen haben wir, gemäß dieser Lehre, verloren.

Mythen geben von diesen großen Zyklen und von einer Zeit Kunde, wo Geschichte (Historie, Geschichtsschreibung) nicht hinaufreicht, von einer primordialen Zeit, einer Zeit der Anfänge. Diese Zeit der Anfänge versucht man, in Kulturen und Riten wieder zu erneuern.

Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zur Struktur der Mythen und der in ihnen herrschenden Zeit bzw. Zeitlosigkeit sagen: Mythen sind, gemäß sehr unterschiedlicher Theorien, Gestaltungen eines Ursprungsdenkens, unbewusster Konflikte und menschlicher Beziehungen; man kann sie sich als Projektionen auf äußere Bedingungen und auf die Natur vorstellen. Das physisch Elementare ist eine Grundlage der Mythen. Vergöttert wird das, was sich als lebensbestimmend erweist, z.B. das Wasser, die Erde, die Luft oder das Feuer.

Den Elementen und Himmelskörpern wurden magische Kräfte zugesprochen; es entwickelten sich z.B. Erd-, Sonnen- und Mondkulte. Häufiger Gegenstand der Mythen sind die Uranfänge individuellen Seins und der gesamten Menschheitsgeschichte.

Mythen erzählen - und ich greife hier Mircea Eliades Theorie heraus -, "auf welche Weise dank den Taten der übernatürlichen Wesen eine Realität zur Existenz gelangt ist ... Es handelt sich also immer um die Erzählung einer ‘Schöpfung’ ... der Mythos spricht nur von dem, was wirklich geschehen ist, von dem, was sich voll und ganz manifestiert hat." In dieser provokanten Formulierung wird festgestellt, dass Mythen (im Unterschied zu Legenden) "wahre Geschichten" sind, dass sie von einer Wirklichkeit handeln, von dem, was sich umfassend manifestiert, was sich offenbart hat. Die "wahre", "heilige" Geschichte eines jeden Mythos bezieht sich immer auf Realitäten: "Der kosmogonische Mythos ist ‘wahr’, weil die Existenz der Welt ihn beweist; auch der Mythos vom Ursprung des Todes ist ‘wahr’, weil die Sterblichkeit des Menschen ihn beweist, und so fort."

Die Sprache der Bibel, der Sagen, Märchen und Mythen erhebt das Gedachte und Imaginierte auf die Ebene des Zeitlosen, in unermessliche Räume. Mircea Eliade spricht in Bezug auf die Jetzt-Zeit von "Resten eines ‘mythologischen Verhaltens’" und dem Wunsch, "die Intensität wiederzufinden, mit der man etwas zum ersten Mal erlebt oder erfahren hat, die ferne Vergangenheit, die glückselige Zeit der ‘Anfänge’ ..., dieselbe Hoffung, sich von der Last der ‘toten Zeit’ zu befreien, von der Zeit, die erdrückt und tötet".

Schließen die Leidenschaft für das "pulsende Weltgeschehen" und die "Erdwendezeiten", für den "bildgefesselten Menschen" (gegen eine "‘entzauberte’ Bildungsmenschheit") und die "unterirdischen Quellen" (von denen Ludwig Klages sprach) - schließen diese Leidenschaften die Zeitvorstellungen des historischen oder historisierenden Denkens aus?

Wenn wir das Geschichtliche und das Vorgeschichtliche streng voneinander trennen und gegenüberstellen, geht der Blick dafür verloren, dass auch Mythen ein gesellschaftliches und geschichtliches Umfeld haben und dass, wie es Bronislaw Malinowski formuliert hat, "Mythen viele kulturelle Erscheinungen beherrschen und regulieren und das Rückgrat der sogenannten primitiven Zivilisation bilden". Der zeitlose Gehalt der Mythen wird inmitten einer geschichtlichen Zeit von den Menschen angerufen, um Entscheidungen in Streitfragen herbeizuführen. Im Zusammenhang unseres Themas der Zeit liegt es nahe, auch die Definition des Mythos als Darstellung des "Unendlichen im Endlichen" zu erwähnen. Wie auch immer man den Mythos versteht: man geht heute weitgehend nicht mehr davon aus, dass es einen Ursprungsmythos und einen Originaltext gibt; jeder Mythos hat, so Claude Lévi-Strauss, "seinen Ursprung in einem anderen Mythos".

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den verschiedenen Zeitaltern, aber auch schon in unterschiedlichen Erfahrungs-, Denk- und Wissensmodellen, leben wir also in ganz unterschiedlichen Raum-Zeit-Konzepten. Es steht Ihnen jederzeit frei, vor Ihrem inneren Auge ansatzweise eine zeitlose Welt entstehen zu lassen, eine Zeit, die man auch als "Traumzeit" und "alcheringa" oder "vor undenklichen Zeiten" genannt hat. Wenn man jener Zeit der Anfänge die absolute Priorität gegenüber dem Jetzt einräumt, dann erscheint die geschichtliche Existenz als "zweiter Sündenfall des Menschen", wie dies Mircea Eliade formulierte.

Können wir das "Rad der Zeit", von dem manche Schamanen sprechen, beschleunigen? Es soll möglich sein, bei entsprechender Übung, in viele der reflektorischen Spalten der Zeit (die man sich wie einen Tunnel vorstellen könne) zu blicken. Wenn man das Rad der Zeit in Bewegung setze, löse man sich von dem einen Blickwinkel, der einen Spalte (also unserer Identität, unserem Ich und unserer Lebensform) und versetze sich in die Lage, in alle Zeiten, in Vergangenheit und Zukunft zu blicken und aus allen Zeiten ungeahnte Energie zu beziehen. Carlos Castaneda spricht von der Verschiebung des "Montagepunktes", an dem unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit montiert sei.

Ich oder jeder von Ihnen könnte Träume erzählen und angebliche Beispiele der Kunst des Fliegens vorführen und uns an Abgründe der Erkenntnis heranführen. Carlos Castaneda war der Meinung, man müsse nur den "Montagepunkt" verschieben, um fliegen zu können.

Aber jeder von uns kennt auch Zeitverschiebungen im vertrauten Umfeld: wie sich die Zeit verflüchtigt beim Musikhören, beim Anschauen eines Balletts oder einer intensiven Naturerfahrung. Denken, fühlen und orientieren wir uns vielleicht am Ende viel mehr außerhalb der vertrauten engen Zeit-Vorstellungen und viel mehr in zeitlos erscheinenden Vorstellungen und Erfahrungen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auch der Frage stellen, ob sich ein in Geschichte verhaftetes Wesen überhaupt - trotz Schlaf- und Traumphasen, trotz Trance- und Ekstaseerfahrungen - außerhalb der Zeit aufhalten kann und ob uns das Gedächtnis auch nur für Augenblicke freigibt oder ob wir uns nicht immer, auch wenn wir kein Bewusstsein davon haben, auf der Spur unserer Erinnerungen bewegen. "Groß ist die Macht des Gedächtnisses, grauenerregend seine Tiefe und unendlich seine Vielfalt," schreibt Augustinus in seinen Bekenntnissen.

Jan Assmann zitiert in seiner großen Studie Thomas Mann und Ägypten Augustinus mit der Formulierung "Ich bin, was ich erinnere." Mythen gehören zu den eindrucksvollsten Dokumenten kollektiver Erinnerungsfiguren, die dem überzeitlichen "Wir"-Gefühl Ausdruck verleihen und immer wieder in der Zeit reaktiviert, ritualisiert in Szene gesetzt werden können.

So treten im gesellschaftlichen, sozialen Leben die mythische Zeit-Sphäre und die historische Zeit zueinander in Beziehung; das Zeitlose - und damit das, was wir Geheimnis, Unerklärliches, Uns-Übersteigendes, Ungeheuerliches nennen - ist im Zeitlichen lebendig. Das kulturelle Gedächtnis ist ein Ort der Vermittlung. Wir sind, was wir erinnernd und in die Zukunft projizierend immer wieder neu gestalten.

Welch eine unendliche, nie ausschöpfbare und oft genug grauenerregende Vielfalt in uns aufbewahrt ist und sich zuweilen abrupt offenbart, wird besonders evident in unseren Träumen. Zugleich heißt es seit Freud vom Unbewussten, dass es in ihm keine Zeit gebe. Es war vor allem Jacques Lacan, der diese These in dieser Form in Frage gestellt und sie feinfühlig modifiziert hat. Anstelle einer chronologischen Zeitabfolge, einer linearen Zeit spricht er von einer Zeit-Struktur und einem synchronischen Zustand.

Wir haben ja in der Psychoanalyse die Möglichkeit, unser Verständnis vom seelischen Geschehen mehr auf Entwicklungsphasen - also zeitliche, diachronische Abfolgen - oder mehr auf Strukturen, also synchronische Zustände, zu richten. Der Strukturbegriff befreit uns ein Stück weit von der oft einengenden Vorstellung zeitlich festgelegter Abläufe. Der moderne Begriff der Struktur nimmt vor allem Bezug auf die Linguistik und die Mathematik. Struktur ist aber nicht etwas, das jenseits der Phänomene und der Erfahrung liegt; die Struktur ist vielmehr selbst im Feld der Erfahrung präsent.

Die Idee von einer Zeitstruktur hat weitreichende Folgen: In der Psyche ist Zeit nicht an eine Entwicklung von früher zu jetzt gebunden. Sie kann auch als "Nachträglichkeit" und "Vorwegnahme" verlaufen. Das, was wir Vergangenheit nennen, existiert in der Psyche nur als eine Reihe von Erinnerungen, die ständig im Fluss sind, ständig überarbeitet und aufgrund neuer Erfahrungen auch neu interpretiert werden. Insofern - und das ist wirklich erstaunlich - beeinflusst Gegenwärtiges vergangene Ereignisse. In diesem Sinne ist Geschichte nicht Vergangenheit.

Wenn Lacan sagt, Ziel der Psychoanalyse sei "die vollständige Rekonstruktion der Geschichte des Subjekts", dann meint er mit "Geschichte" die "gegenwärtige Synthese der Vergangenheit". Geschichte heißt in diesem Sinn: sie ist eine in der Gegenwart historisierte Vergangenheit. Die Vergangenheit ist also auch ein Feld nachträglicher Projektionen.

In der psychoanalytischen Kur interessiert uns die Vergangenheit nicht als etwas Abgeschlossenes und Historisches, auch nicht als Faktisches, als sogenanntes Reales, sondern, wie die Ereignisse jetzt in der Erinnerung erscheinen und wie sie erzählt werden.

So wie in diesem Sinn die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst, so kennen wir auch die Vorwegnahme der Zukunft. Jeder macht diese Erfahrung ständig, wenn er einen Satz beginnt, ohne explizit zu wissen, was den ersten Wörtern folgt. Aber das Folgende ist schon am Anfang mitgedacht. Psychoanalytisch spricht man von der Vorwegnahme einer imaginären zukünftigen Ganzheit.

Die Psychoanalyse hat uns unmissverständlich mit der Tatsache konfrontiert, dass Geschichte - also etwas mit uns Geschehenes - nichts Vergangenes und Abgeschlossenes ist. Zugespitzt hat es der Psychoanalytiker Jean-Bertrand Pontalis in der Formulierung: Ce temps qui ne passe pas. Die psychoanalytische Kur öffnet dem Analysanten das Tor zu der Zeit, die nicht vorübergeht. Alles Erfahrene ist in uns gespeichert, latent gegenwärtig, also im Präsens, und kann jederzeit durch ein Ereignis wieder in den Vordergrund gerückt, dramatisch revitalisiert werden.

In diesem Sinn ist die Psychoanalyse unzeitgemäß, indifferent gegenüber dem Zeitgeist, den üblichen Auffassungen von Zeit und den Erscheinungsformen von Zeit, seien sie zyklischer oder entwicklungsgemäßer Art. Die Zeit, die die Psychoanalyse thematisiert, ist nicht die, die uns wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt.

Wenn in der psychoanalytischen Kur oder im Traum oder auch im alltäglichen Geschehen eine Szene uns auf dramatische Weise an ein traumatisch erlebtes Ereignis in der Kindheit oder Jugend oder im Erwachsenenalter erinnert, sind wir augenblicklich genau an jenem Punkt, in jener Zeit, die zur Jetzt-Zeit wird. Dort ist dann hier, damals ist dann jetzt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie auf die Frage, wieviel Uhr es im Unbewussten ist, unbedingt antworten möchten, könnten Sie nur sagen: Alles-Zugleich.

Ich werde jetzt noch kurz auf östliche spirituelle Lehren hinweisen, in denen es auch immer um dieses Alles-Zugleich, um das universale Bewusstsein, das absolute Jetzt geht.

Im tiefen spirituellen Sinn gibt es überhaupt keine Zeitstrukturen, die durch Anfang und Ende, Geburt und Tod begrenzt sind. Der Mensch und alle Wesen werden als ein Sich-selbst-Gebären eines Gottes verstanden. Was wir Geburt und Tod nennen, entspringe nur unserer engen Ich-Struktur. Was wir zutiefst seien, müsse als zeitlos verstanden werden. Die Idee von Zeit verdanke sich nur unserer begrenzten Vorstellung von Werden, Entwicklung, Hoffnung auf Zukunft, Begehren usw. All das spiegele das wider, was wir "Zeit" nennen. Sie ist zumeist mit Angst verknüpft.

Unsere Modelle von zeitlicher Abfolge und Entwicklung sind so gesehen nur sehr eingeschränkt gültig, wir sollten uns, so die Warnung, von ihnen nicht durch ihre Schein-Evidenz verführen und gängeln lassen.

Bei dem indischen Lehrer Sri Nisargadatta Maharaj heißt es: "Leben Sie vollkommen losgelöst, so als ob Sie tot wären." In dieser Lehre soll die Ablösung von jedem persönlichen Interesse an der Welt, am Körper und am Verstand - die vollständige Unbeeinflußbarkeit von Raum und Zeit und von Phänomenen - ins Zentrum des eigenen Seins führen. Man soll verstehen lernen, dass man nur ein zeit- und raumloser Zeuge des Geschehens ist. Zeit und Bewusstsein erscheinen gleichzeitig. So gesehen ist Bewusstsein Zeit.

Der Scheintote, von dem ich eben sprach, galt ja lange Zeit auch als Ideal der Theoriebildung. Ich erinnere an Sokrates, der vom wahren Liebhaber der Weisheit sagte, er müsse "schon bei Lebzeiten so tot wie möglich" sein, um die "jenseitigen Wahrheiten ‘autoptisch’ wie von Angesicht zu Angesicht zu schauen." Wir haben es hier mit ersten Hinweisen auf die Selbsterschaffung eines reinen zeit- und interesselosen Intellekts und auf den Zustand eines der Erkenntnis zuträglichen Beinahe-Todes zu tun. Die Theoriebildung scheint nicht ablösbar von der übenden Haltung des epoché-befähigten Menschen, des Menschen also, der sich vorübergehend in einer Ausschaltung von Welt, einer außer-existentialen (Raum-Zeit-freien) Neutralität übt. Die Gespanntheit in ein Anderswo, das der Theoretiker praktiziert, liegt in der Existenz des Menschen selbst begründet. Es gibt einen ekstatischen Zug im Denken. Martin Heidegger hat die Sinnverwandtschaft von ekstasis und existentia betont.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zeit, darf ich so sagen, "läuft uns davon". Ich schließe mit einem Hinweis auf die Pirah -Indianer am Amazonas, die jüngst ein Forscher, Daniel Everett, "Das glücklichste Volk" genannt hat. Diese Menschen kennen nur das unmittelbare Erleben, nur das Jetzt, ohne Bezug zur Vergangenheit, noch nicht einmal zur mythischen Vergangenheit, ohne jede Vorstellung von einem Schöpfergott.

Wenn man nur das Jetzt kennt, hat man dann eigentlich noch eine Vorstellung von Zeit, in unserem vertrauten Sinn einer Abfolge vom Vergangenen über das Gegenwärtige ins Zukünftige? Wenn es keinen Schöpfergott und keine Vorstellung von einem Anfang gibt, also auch keine Schöpfungsmythen, gibt es auch nichts, was man in verbindlichen Ritualen wiederholen müsste. Stößt man so eines der vom Menschen gesuchten Tore zur Freiheit auf?

Ich möchte mit einer Anekdote enden, die von einer sehr gedehnten Zeitvorstellung handelt:

Drei Heilige leben schon seit vierzig Jahren auf engem Raum im Himalaya zusammen. In den ersten zehn Jahren sprechen sie kein Wort miteinander. Dann sagt einer: "Das ist ein schöner Sonnenuntergang heute." Es vergehen weitere zehn Jahre des Schweigens. Schließlich sagt der zweite Heilige: "Ich wünschte mir, dass es heute regnet." Dann, nach weiteren zehn Jahren, bemerkt der dritte Heilige: "Könnt ihr nicht endlich mal den Mund halten."

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.