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Es ist für mich eine große Freude und Genugtuung zu erfahren, daß die Frankfurter Denkbar-Stiftung ihren erstmals vergebenen Preis für Dialogisches Denken Hans-Jürgen Heinrichs zugedacht hat.

Ich bedauere sehr, daß ich in diesem Augenblick nicht persönlich anwesend sein kann. Ich bedauere es zum eien, weil ich es gern habe, wenn Freunde gebührend gefeiert werden, zweitens weil ich mit zunehmenden Jahren einen Sinn für Rituale bekomme und Augenblicken einer gewissen festlichen Nachdenklichkeit wie diesem hier mehr und mehr Gutes abgewinne, nicht zuletzt die Gewißheit, daß geistige Arbeit nicht immer eine einsame Orgie und eine vergebliche Leidenschaft bleiben muß, drittens, weil man sich die Gelegenheit nicht gern entgehen läßt, sich bei der Ehrung eines Autors, mit dem man sich durch gemeinsame Arbeit und Neigung verbunden weiß, mitgeehrt zu fühlen, und schließlich, weil ich ziemlich fest davon überzeugt bin, daß ich als einer der Hauptbelastungszeugen zugunsten der Preis-würdigkeit des Preisträgers aussagen könnte.

Ich würde, wenn ich anwesend sein könnte und ins Verhör genommen würde, den Bericht über ein intellektuelles Abenteuer zu Protokoll geben, von dem ich weiß, daß es ganz außerhalb des Alltäglichen und Erwartbaren lag. Es wäre dies ein Bericht von einer mehrjährigen Interview- und Gesprächs-Odyssee, aus der eine Serie von Dialog dokumenten hervor-gegangen ist – heute gesammelt nachlesbar in einem Buch unter dem etwas rätselhaften literarischen Titel „Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen“, publiziert im Jahr 2001 im Suhrkamp Verlag – ich verzichte, der Länge halber, auf die Liste der Zeitungen, in denen keine Besprechungen erschienen.

In der Retrospektive weiß ich heute, daß diese sokratischen Interviews oder Tiefenbefragungen oder Werk-Erkundungen oder wie man diese Gesprächsexzesse, die Hans-Jürgen Heinrichs und ich betrieben, sonst nennen möchte, für mich eine kostbare Provokation dargestellt haben. Sie boten eine Herausforderung durch genaues Wissenwollen, wie man sie im Lauf eines Lebens wohl kaum ein zweites Mal vorgelegt bekommt.

Ich erinnere mich noch sehr gut an die Geste, mit der Heinrichs sein Mikrophon und sein Aufnahmegerät auf dem Tisch zwischen uns montierte, beides Objekte von hohem Sammlerwert, zum einen als Zeugen der Frühgeschichte der Magnetophonie, zum anderen als Zeugen der hohen Geistergespräche, die mit ihrer Hilfe ins magnetische und literarische
Archiv eingingen. Aber eindrucksvoller noch war die Geste, mit welcher Heinrichs einen drei bis vier Zentimeter hohen Stapel von Blättern behutsam vor sich legte, von denen ich im Lauf des Gesprächs begriff, daß sie seine Vorbereitungsaufzeichnungen darstellten, oft mehr
als hundert sorgfältig mit Fragen und Fragevarianten, Diagrammen und Querverweisen beschriftete Blätter, durchsetzt mit Fotokopien aus Büchern von mir und zahlreichen anderen Autoren, die er als Stimmen und Gegenstimmen gegenwärtig haben wollte, Blätter, die er in einem undurchschaubaren Rhythmus aufhob, zur Seite legte, der Reihe nach vertauschte und von neuem vornahm.

Ich gebe zu, daß ich vielleicht erst nach dem dritten Mal dieses Verfahren zu verstehen und zu goutieren begann. Erst von da an wurde ich in die Magie dieser Papierprozeduren richtig hineingezogen – man sieht dies wohl in unserem gemeinsamen Buch, vor allem an dem überbordenden und offensiven zweiten Gespräch, das chronologisch das vorletzte war. Man merkt es aber auch an den beiden Schlußgesprächen, die an einem langen Tag in Frankfurt vom frühen Morgen an entstanden, Gesprächen, von denen mir zunächst in Erinnerung kommt, daß ich eigentlich mittags auf den Zug wollte, was sich aber angesichts des
von Heinrichs vorbereiteten Doppelstapels von zwei mal drei Zentimeter Fragen, Kopien und Variationen als ein Ding der Unmöglichkeit erwies. So verließen wir beide wie ausgebrannte Schamanen nach einer Reise zu den Hyperboräern spät abends den Schauplatz – ich darf verraten, daß es das Suhrkamp-Gästehaus gewesen war und daß die obligaten Weißwein-flaschen, die damals zur Grundausstattung der Gästeküche gehörten, ihren Beitrag zum Fortgang des Dialogischen Denkens reichlich geleistet hatten. Mir scheint, daß an diesem Abend Heinrichs’ Tonbandgerät endgültig seine Aufnahme in die Geistesgeschichte geschafft
hatte.

Wahrscheinlich waren Heinrichs und ich dem Begriff „Denkbar“ näher als je zuvor und danach in unserem Leben – und so scheint mir eine überzeugende Logik in dem Umstand zu liegen, daß Heinrichs, der in dieser Zeit zu einem Freund geworden ist, erneut vor die Schranken
einer Denkbar zitiert wird, um hier einen Preis entgegenzunehmen, der wie für ihn geschaffen ist. Ich darf also, auf eigene Erfahrung gestützt, bekennen, daß ich mir keinen Preisträger vorstellen kann, der besser geeignet wäre, diese Auszeichnung entgegenzunehmen und als erster in einer hoffentlich langen Kette von Nachfolgern für die Sache der grenz-überschreitenden und randgängerischen Denkformen zu zeugen.

Ich gratuliere der Stiftung zu ihrer Initiative ebenso wie zu ihrem ersten Laureatus und wünsche den Denkbar-Vorlesungen, die sich in den nächsten zwei Jahren hier entwickeln sollen, das beste Gelingen.