Schon bei der Ankunft in Tanger probiert er seine Unsichtbarkeit aus. Er gibt sich matt. Wie eingestaubt. Ohne Helligkeit, ohne Kontur, der sanfte Parasit. Die fremde Sprache findet er auf der anderen Straßenseite: wie den Eingang zur Bank oder den Ort, wo die Taxis halten. Freiwillig nahe, freiwillig ferne zaubert er Leere, zaubert er Logik. In der präzisen Absenz Entdeckungen im Weltmaßstab.
Körper wird leicht; bringt sich selbst zum Verschwinden.
Auge errät: die Polyesterfrau. Lieber würde sie glitzernd wie ein Stern aufgehen über den Rampen der City als der schleifenden Spur ihrer Füße zu folgen, die sich täglich an Papiertüten und toten Hühnern stoßen. In großer Eile bewegen die Männer sich vorwärts, Europas souveräne Kopisten. Barfüßig oder in neuen Turnschuhen: sie befolgen ihren Traum von einer Ware, einer silbernen Kasse und einem vergoldeten Namen über der Tür. Er sieht sie den Frisierstuhl besteigen; ihre Köpfe hinhängen neben die von Jimmy Hendrix, Mona Lisa, Hemingway.
Orte wie Baustellen, staubig und roh. Eine schneeweiße Luft. Ein Aussätziger gibt ihm die Hand als wollte er seine Krankheit mit ihm teilen. Das Lied der Sängerin versetzt ihn in Schläfrigkeit. Er wird seine Anordnungen treffen, sich fortstehlen, verschwunden sein. Er schließt die Wohnungstür auf, Europa, Apparatur. Sie sind wieder da die glücklichen Tage.
Ethnologie II
Ein Prosagedicht, den Ethnologen beobachtend: Hans-Jürgen Heinrichs, vor fünfundzwanzig Jahren, als er die Rede vom „eigenen“ und vom „fremden“ Blick als Feuerwerkskörper zum ersten Mal zündete und der Umlaufbahn des Diskursiven aushändigte, im Blick den Exotismus des Alltagslebens, gestreift von Voudouwissen, erfaßt von Talfahrten ins eigene, ins europäische Selbst und im Herzen den Satz von Michel Leiris: „Lieber wäre ich selbst besessen als über die Besessenen zu schreiben“, und da fragt man sich nun, mit welcher Art von Furor ein heutiges Gedicht, ein jetzt geschriebenes, neu entstehendes zu tun bekommen wird und wie sich jetzt, im Augenblick, der unruhige Reichtum dieses Reisenden poetisch packen läßt, dieses den Zusammenbruch Denkenden, den Aufbruch Deutenden, die Orientierung aufs Spiel Setzenden
ein Gedicht, das, von welchem neuen Beobachterposten, welchem heutigen Ausguck aus, geeignet wäre, die Lineatur, besser gesagt, die abwechs-lungsreiche Architektur dieses Kopfes und seiner inneren Befestigungen (oder sind es Loslösungen) in Sprache einzufangen, die eine luftige, eine die Schauplätze beschleunigt wechselnde Sprache zu sein hätte
deshalb, so denke ich, könnte das neue Gedicht, was nahe liegt, vom dialogischen Vermögen handeln, von Gedankendurchquerungen zu Zweit, es könnte mit Formen des Erfahrungsaustauschs von Angesicht zu Angesicht zu tun haben, könnte handeln von E. M. Cioran in Paris, dem zornigen Gesprächsverschmäher, dem überzeugten Zwiespracheverabscheuer, der ausnahmsweise hier, ein Mal, in diesem Fall ausbrach, sich ausgeklinkt hat aus schwarzer Monomanie, in Rede und Antwort zugegen und plötzlich vorhanden war, zum Sprechen und Widersprechen bereit, von „Ethnologie“ verführt, sich selbst ein Ethnologe wird, von außen sich sieht, sich zuschaut und sich selber in die Karten blickt, auch, wenn er nur zu sagen hat: das Scheitern des Schiffbrüchigen ist die am weitestgehende angemessene Beschreibung der Stellung des Menschen im planetarischen All
fortsetzen, weiterschreiben würde sich das Gedicht mit Nathalie Sarraute, der Hundert-jährigen, die sagt, noch lebe ich, noch spreche ich, noch komm am Nachmittag zu mir und nimm das Wenige, was mir noch möglich ist
das Viele steht in einem andren Buch, ein Buch mit Peter Sloterdijk, „Die Sonne und der Tod“, das sich die Welt erspricht und sprechend Grenzland absteckt, neu gewinnt, ein Buch, in dem man liest, daß Sinn verging und uns geblieben ist: „lesbare Spur“
was gleich ein schöner Titel ist für das zu schreibende, das jetzt neu zu beginnende Gedicht, das zeigen soll, wie und wohin der Ethnologe sein Gebiet und seine Wildnis schneller Wörter- und Ideenabspeicherung erweitert hat, vielleicht nur anders eingefädelt, ausgespäht, an sich herangezogen hat im Hierhin und Dorthin fortwährender Richtungs- und Gegenrichtungs-Aufmerksamkeit, in kleinen Akten des Sich Verschiebens, sich selber Vorschiebens, Eindringens und sich verwandtschaftlich Einfügens in die wechselnden Lichtverhältnisse der Erscheinungen, in Schattendunkelzonen, Lichteinschübe und nun weiter ausgefaltet hat, aus sich herausgetreten ist: man könnte die Orte nennen, ein Rom, ein Amsterdam, ein San Sebastián und Paris, die Lebensorte, Lebens-Geläufigkeit, man könnte die Namen aufzählen, Michel Leiris und Jacques Lacan, Fritz Morgenthaler, Leo Frobenius und Bachofen, Cendrars, Bataille, Schwarzenbach, die im Gedicht ganz unverhofft verwandelt, gekippt sein werden in sehenswerte Namens-Anblicke, Namens-Bildnisse, die ein poetisches Zusammenlesen von sich aus ermöglichen, als wäre am Ende der Welt ihr ganzes Werk von einem einzigen Autor verfaßt
und dabei denkt man an den Wunsch, sich in den synaptischen Schlaufen des Kopfes des Ethnologen für kurze Zeit aufhalten zu können, in diesen Kurven zuhause zu sein, mit denen hier die Bewegungsfreiheit eine Form annimmt und WELT wird, von der zu sagen ist: WELT, die du in dir trägst
ein experimentelles, ein absurdes Gedicht?, in jedem Fall kein enthaltsames, so stellt sich heraus, kein knappes Poem über den Ethnologen, es könnte zuletzt etwas ganz und gar Unerwartetes daraus werden, etwas dem Formenkreis der Gedanken durch und durch Fernliegendes sogar
ein Bild, ein Foto, ein fotografierter Gegenstand?, nein, es kommt mir vor wie eine sehr reale Apparatur, was mich nun selbst erstaunt und überrascht sein läßt, ein hochverdichtetes Gerät, es ist ein Fahrgestell, was, frage ich, ist aus der ethnographischen Forschung geworden, aus ihrer Poesie, aus ihrer Magie und Mythologie?
Ethnologie III
In Neu-Guinea, auf den Osterinseln oder im nördlichen Eismeer kommen die Ethnologen alle paar Wochen vorbei, um ihre Fragebögen vorzulegen, was arbeitest du, woran glaubst du, wie schläfst du mit deiner Frau, so fragen sie, sie nehmen die Antworten mit und werten sie aus in den wissenschaftlichen Lehrstühlen der Ersten Welt, sie selber bleiben verschont, kein Mensch käme auf die Idee, daß auch die Ethnologen über sich etwas mitzuteilen hätten, daß auch sie einmal befragt werden sollten, welcher besonderen Eigenschaft sie es verdanken und wer sie ausersehen hat, in der Weltgeschichte herumzureisen und zu glauben, sie wären besser als andere geeignet, in der Fremde die Fremdheit des Fremden zu ergründen
mag sein, daß die Ethnologen selber weniger beachtenswert, weniger eindrucksvoll, weniger bedeutsam als diejenigen sind, die ihnen Rede und Antwort stehen müssen, mag sein, daß der Begriff der „Feldforschung“ die Farbe aus ihrem Leben vertrieben hat, mag sein, daß sie buchführend den eigenen Wachzustand verschlafen haben, sodaß sie etwas nicht Erwähnenswertes angenommen haben
da fragt man sich natürlich dann, warum denn er?, fragt sich, was bringt er mit?, von welcher Art, Lesart ist seine Welt und wird von welcher Luft, von welchen ätherischen Gesetzmäßigkeiten in Atem gehalten, daß nun zum dritten Mal der Blick der Wörter in seine Richtung geht, das dritte Mal nun schon die abwechslungsreiche Reise dieses Kopfes und dieses neugierigen Herzens einen Abdruck findet in einem Gedicht, das folgerichtig den Titel trägt ETHNOLOGIE III
das erste Gedicht zeigt ihn vor 25 Jahren bei der Ankunft in Tanger und später in Wüstengebiet: den Mann ohne Gepäck, verschwindend fast bis zur Erscheinungslosigkeit zwischen dem Sand und dem Licht und den tierbeladenen Fuhrwerken, die er dort vorfindet, das Gedicht sagt, „er gibt sich matt, wie eingestaubt, ohne Kontur, der sanfte Parasit, die fremde Sprache findet er auf der anderen Straßenseite, genauso wie den Eingang zur Bank oder den Ort, wo die Taxis halten: freiwillig nahe, freiwillig ferne zaubert er Leere, zaubert er Logik, in der präzisen Absenz Entdeckungen im Weltmaßstab“. So heißt es in dem ersten Gedicht, das den Ethnologen bei seiner Arbeit zeigt, gereinigt von den Eigenschaften des Europäers, aber das täuscht: ist er davon gereinigt?
er wird sich zurückverwandeln und wieder einer von ihnen sein: wird er es sein?
er wird in einer bei sich zu Haus gesprochenen Sprache über den Aussätzigen berichten, der ihm die Hand gab, als wolle er seine Krankheit mit ihm teilen: aber ist er bei sich zu Haus?
das sind die Fragen, die er sich selber stellt und nicht den anderen, dieser Ethnologe, von dem es nun, mit jedem weiteren Wort und Satz für Satz nun bald ein weiteres, ein drittes Gedicht geben wird, was aber keinesfalls bedeuten soll, ihm zuvorkommen zu wollen, weil auch das zweite Gedicht eine Station, Anlauf- und Einstiegsstelle für das Verstehen dieses berufsmäßgen Fernvertrauten ist, daß ihn im Jahr 2002 auf einem Mountainbyke sitzend zeigt, bergauf- oder bergab entlang einer spanischen Küstenstraße, ausgestattet mit seinem Talent für die völlige Anverwandlung, denn das Mountainbyke hat tatsächlich die gleichen Eigenschaften wie er, der nun auf dem Mountainbyke Reisende und dabei selber zu einem Mountainbyke Gewordene: er ist das Mountainbyke, als habe das Mountainbyke für ihn Portrait gesessen:
und dieses hochgeschmeidige Werk, dieses Kunstwerk der Übersetzung, das heißt die ästhetische Kombinatorik von Zahnrad und Gangschaltung, von Kette, Pedal und der Kraft des Tretens läßt den Ethnologen jetzt überdeutlich erkennbar werden und sich abzeichnen:
als einen ÜBERSETZUNGS-KÜNSTLER, einen SYSTEME-VERSCHALTER, sattelfest, geländegängig, der die dünnwandig voneinander getrennten Teilsysteme weder sucht, noch sie findet, sondern der eingetaucht ist in sie, was nun das endlich zu schreibende dritte Gedicht unübersehbar ins Blickfeld rückt, das den Ethnologen als Autor zeigt, der über die Philosophie der Sphären und Schäume, der Atmosphären und Räume, kosmischen Behältern bei Peter Sloterdijk, ein Buch verfasst hat, in denen die Enzyklopädie des Kopfkissens gleich neben der Ewigkeit ihren Platz hat
„Der Philosoph als Weltraumfahrer“, so soll der Titel des Buches sein: der Ethnologe ist vom Mountainbyke abgestiegen, er ist von seinen Afrikareisen zurückgekehrt, ist aus dem Bus in Lagos ausgestiegen, aus dem Automobil in Teheran, aus dem Flugzeug nach Bamako und ist zur Zeit, in Begleitung von Peter Sloterdijk, in extraterrestrischem Gelände unterwegs
man darf hoffen, ihn wiederzusehen, da schon im ersten Gedicht von seiner beunruhigenden Begabung, sich unsichtbar zu machen, die Rede war
hoffen, uns in den synaptischen Schlaufen des Kopfes des Ethnologen für kurze Zeit aufhalten zu können, in diesen Kurven zuhause zu sein, mit denen hier die Bewegungsfreiheit eine Form annimmt und WELT wird, von der zu sagen ist: WELT, die du in dir trägst
und sich wünschen, dies glücklicherweise nicht vergeblich, ihn, den Ethnologen, der uns unsere Fremde zeigt, einmal sagen zu hören:
„Ich habe heute einen wunderbaren Satz von Michail Michailowitsch Bachtin über Leonardo da Vinci gelesen. Er lautet:
„Leonardo beschreibt das Wasser, und das Wasser beschreibt Leonardo.“