Die Denkbar ist ein Ort, an dem das traditionell Gedachte auf seine vitale und kulturell-integrative Kraft hin diskutiert wird. Darüber hinaus aber sollen die in den vorherrschenden Traditionen und geistigen Strömungen nicht genügend berücksichtigten Gedanken und Strukturen, Handlungs- und Lebensformen im Dialog aufgegriffen und verlebendigt werden.
Dabei ist es uns ein zentrales Anliegen, die Trennung von traditionellen Orten des Handelns (Alltag, Beruf, Politik) und solchen des Denkens (Schule, Universität, Institut) zu überwinden. In einer gesellschaftlichen Phase des ökonomischen Niedergangs, der kulturellen Verflachung und einer allgemeinen Depression hat ein Vermittlungsort wie die Denkbar die größten Chancen, ein möglicher Dreh- und Angelpunkt zur Einübung in veränderte Einstellungsformen zur Welt zu werden.
Wichtige Etappen auf dem Weg dorthin waren die Gründung einer Denkbar-Stiftung und die erstmalige Verleihung des Denkbar-Preises an Hans-Jürgen Heinrichs. Beide Aktivitäten verstehen sich als versuchte Umkehrung der Prozesse, die kulturfeindlich sind. Ganz in diesem Sinne spricht der Kulturhistoriker Morris Berman von einer „utopischen Wissenschaft“, einem notwendigen Wandel in den Lebensformen und, im Rückgriff auf die Dämmerungsphase Roms, in der sich eine Mönchsklasse zur Bewahrung der zivilisatorischen Schätze gründete, von einer „monastischen Option“.
Gegen kulturelle Apathie, geistigen Zynismus und die Übermacht ökonomischer Interessen verfolgen wir ein Ziel, das sich, über die Stiftung hinaus, in unserem „Institut für philosophische Praxis“ erfüllen könnte. Durch die Stiftung und das Institut soll die Philosophie nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als angewandte Weltweisheit und besonders als Lebensform praktiziert werden.
Alle Stiftungsaktivitäten stehen unter dem Leitbild der Agape als einer universellen und verbindenden Kraft für alle Menschen und alles Leben. Ziele sind Selbsterkenntnis, geistiges Wohlwollen und gegenseitige empathische Fürsorge, aber auch eine Kultur des Widerstandes gegen lebensfeindliche Erscheinungen wie Intoleranz, kollektive Wahnzustände, Verschwen-dungskapitalismus, Idolatrie, Egomanie.
Im Sinne eines Partizipierens soll eine wechselseitig befruchtende Vermittlung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, akademischem Wissen und Lebenswissen angestrebt werden. Freude und andere lebensdynamisierende Aktivitäten werden gefördert, um heitere Gelassenheit und dialogische Offenheit erreichen zu können.
Die Denkbar ist damit auch Lebenspraxis. Das Denkbare wird zum Lebbaren. Das Mögliche und Unmögliche sind nicht voneinander geschieden, sondern Aspekte eines kreativen Prozesses.
Nietzsche sprach einmal davon, daß Alleinsein mit einem großen Gedanken unerträglich sei. „Ich suche und rufe Menschen, denen ich diesen Gedanken mittheilen darf, die nicht daran zugrunde gehen.“ Was Nietzsche mit dem „großen Gedanken“ bezeichnet, läßt sich sehr weit fassen: als die Selbstvergewisserung der menschlichen Seinsform in ihrer einzigartigen Komplexität aus Schöpfungsbegabung und mörderischem Tun, aus höchster Lust und tiefster Verzweiflung, aus Angst, Sorge und Erlösungsvisionen. Diesen Gedanken mit anderen Menschen zu teilen, sich im dialogischen, empathischen und mitfühlenden Sinn auszu-tauschen, deutet die Richtung an, in der die Denkbar weitergehen möchte.
Hans-Jürgen Heinrichs, der unter anderem mit Peter Sloterdijk den programmatischen Band „Die Sonne und der Tod“ veröffentlichte, hat wie kaum ein anderer Intellektueller seit fast dreißig Jahren dem Dialog zwischen Ethnologie, Psychoanalyse, Philosophie und Literatur neue Impulse gegeben. Seine Studien zur Ethnopsychoanalyse, Ethnopsychiatrie, Anti- psychiatrie und modernen Kunst, zu Michel Leiris, Victor Segalen, Georges Bataille, E.M. Cioran, Henri Michaux, Leonard Woolf, Hans Henny Jahnn, Claude Lévi-Strauss und Jacques Lacan, zu Max Raphael, Johann Jakob Bachofen, Bronislaw Malinowski, Paul Parin, Hubert Fichte, Georges Devereux, Fritz Morgenthaler u.v.a. gehören längst zu den Klassikern eines modernen Denkens im weiten Feld der Humanwissenschaften und einer poetischen Anthropologie.
Die Titel von Heinrichs’ Büchern haben allesamt programmatischen Charakter, unter anderem: „Die eigene und die fremde Kultur“, „Das Fremde verstehen“, „Die fremde Welt, das bin ich“, „Ein Leben als Künstler und Ethnologe“, „Fenster zur Welt“, „Grenzgänger der Moderne“, „Inmitten der Fremde“, „Wilde Künstler“, „Sprachkörper“, „Erzählte Welt“, „Das schöpferische Auge“, „Die Geschichte ist nicht zuende“, „Der Mensch hat eine Zukunft“, „Der Wunsch nach einer souveränen Existenz“ …
Für dieses umfangreiche, interdisziplinär ausgerichtete Werk bekommt Heinrichs den „Preis für dialogisches Denken“ zugesprochen. In den Denkbar-lectures, die er 2002 und 2003 hält, soll der Übergang vom autoritären Lehren zum dialogischen, lernenden Austausch markiert werden.
Mein Dank gilt dem Preisträger, den vortragenden Autoren und der Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main, Frau Petra Roth, dafür, daß sie die Schirmherrschaft für diese Veranstaltung übernommen hat.